Exkurs: Nero und die Christenverfolgung
von Jasmin M. Widauer
Tacitus, Annales, Buch XV, 44, 2:
"Ergo abolendo rumori Nero subdidit reos et quaesitissimis poenis affecit, quos per flagitia invisos vulgus Chrestianos appellabat."
"Daher schob Nero, um dem Gerede ein Ende zumachen, andere als Schuldige vor und belegte die mit den ausgesuchtesten Strafen, die, wegen ihrer Schandtaten verhaßt, vom Volk Chrestianer genannt werden."
(Übersetzung aus: Annalen, lat-dt, herausgegeben von Erich Heller, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt/Artemis&Winkler Verlag Düsseldorf/Zürich, 1997)
Diese Textstelle galt und gilt bei den meisten Historikern als der Beleg für eine erste Christenverfolgung unter Kaiser Nero im Sommer des Jahres 64.
Diese Interpretation hat durch die Jahrhunderte viel zu der ausgesprochen schlechten Meinung über Nero beigetragen, da die christlich geprägte Geschichtsschreibung seit dem Mittelalter Nero natürlich hauptsächlich diese eventuelle Christenverfolgung angelastet hat, wobei Nero auch als Antichrist bezeichnet wurde usw.
Wir besitzen sehr wenige Dokumente direkt aus der Antike (Papyrosfunde, Inschriften etc.), der größte Teil antiker Schriftzeugnisse ist durch Abschriften aus dem Mittelalter überliefert, was natürlich einigen Einfluß auf die tradierten Inhalte hat.
Tacitus war nie Schulautor, seine Rezeption beschränkte sich im Mittelalter hauptsächlich auf Historien und Annalen (erst in der Rennaissance wurde er in größerem Ausmaß bedeutend), die bis heute als gute Quellen für die römische Kaiserzeit gelten.
Basierend auf dem Kirchenhistoriker Orosius aus dem fünften nachchristlichen Jahrhundert, bezeichnete man im Mittelalter und der Rennaissance diese Tacitusstelle als erstes Zeugnis von Christen in Rom außerhalb des biblischen Corpus.
Nicht nur die Geschichtsschreibung in Mittelalter und Neuzeit, sondern auch die heutige Forschung zweifelt kaum an der Darstellung des Tacitus - der in seiner persönlichen politischen Meinung ausgesprochen anticaesarisch eingestellt war und den Senat als höchste Instanz im Staat sah, dh. eigentlich Republikaner war, und somit jedes Interesse hatte, die Herrschaft eines Kaisers als negativ darzustellen - obwohl die Theorie einer Christenverfolgung unter Nero einige entscheidende Schwachstellen besitzt. Die Grundargumente derjenigen Historiker, die eine Christenverfolgung unter Nero als kaum möglich betrachten, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
A) Tacitus ist die einzige Quelle, bei der diese Verfolgung auftaucht, und er spricht von den Anhängern eines gewissen Chrestos, von Chrestiani, das ist textkritisch unzweifelhaft. Bei Sueton, der dieselbe Zeit behandelt - wenn auch mit anderen Akzenten, er schreibt Biographien, das heißt, er konzentriert sich auf eine Darstellung der Charakter der verschiedenen Kaiser und neigt dazu, lieber "Histörchen" anstatt Historie zu notieren - findet man keinen Hinweis auf eine Christenverfolgung, er äußert sich einfach nicht dazu
B) Tacitus lebte von 55 bis 116 nach Christus, er gehörte zusammen mit seinem Freund Plinius minor zum engeren Kreis der Senatoren um Kaiser Traianus. Wie durch Plinius' berühmte "Christenbriefe" (Plin. epist. X,96 bzw. 97) ersichtlich ist, waren die Christen zu dieser Zeit als eigenständige religiöse Gruppe bekannt und Tacitus hätte, wenn er dezitiert die ihm vertrauten Christen gemeint hätte, keinen Grund gehabt, sie in seiner historischen Darstellung als "Anhänger eines Chrestos" zu bezeichnen bzw. keine Querverbindung zu den Christen seiner Zeit herzustellen. Tacitus kannte Christen, und er hat die religiöse Gruppe, die unter Nero eine Verfolgung zu ertragen hatte, nicht als Christen bezeichnet oder mit den Christen seiner Zeit in Verbindung gebracht.
C) Im Jahr 64 nach Christus definierten sich die verschiedenen christlichen Strömungen selbst noch als jüdische Splittergruppen, auch wenn sich schon Paulus bemühte, eine Abgrenzung vorzunehmen. Das hatte aber wie die gesamtchristliche Abgrenzungsbewegung realpolitische (vgl. jüdischer Krieg mit Rom - die Christen erhofften sich, wenn sie als eigene Gruppe wahrgenommen würden, den Repressionen, die den Juden durch die Konfrontation mit dem imperium romanum entstanden, zu entkommen) und gerade im Fall von Paulus auch klar antisemitische Gründe.
Im Judentum existierten spätestens seit dem Hellenismus - Judaea war seit dem babylonischen Exil fremdbeherrscht, und seit Alexander III von Makedonien Teil des hellenistischen Kulturraums - immer konservativ-orthodoxe Strömungen zusammen mit hellenistisch geprägten Strömungen nebeneinander, was sich ua. im Makkabäeraufstand zeigt; die Makkabäer, die als Reformer des frommen Judentums auftraten, übernahmen ihrerseits später als Dynastie der Hasmonäer wieder hellenistische Traditionen, was darin gipfelte, daß es sogar eine Königin aus dieser Dynastie, Salome Alexandra, gab, die bis auf das Amt des Hohepriesters im Tempel von Jerusalem alle Regierungsfunktionen besaß.
Diese Entwicklung löste wiederum Widerstand aus, und nach der römischen Eroberung Judaeas existierten viele verschiedene religös und politisch aktive Gruppen, die z.T. offen eschatologische Vorstellungen predigten, z.T. aber pragmatisch politische Befreiung von der Fremdherrschaft erhofften (Messias war im jüdischen Verständnis ein politischer Terminus!).
Daraus ergibt sich, daß die Christen, die sich auf Jesus von Nazareth beriefen, eine von vielen jüdischen Gruppen mit ähnlichen Erwartungen
(baldiges Weltende, das Fremdherrschaft beendet, Jüngstes Gericht, bei dem nur die Rechtgläubigen überleben, Jesus als Sohn Gottes etc) war. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß Nero überhaupt von der Existenz der Gruppe wußte, es gab zu viele religiöse Vereinigungen dieser Art und die Christen waren in Rom zu diesem Zeitpunkt zahlenmäßig viel zu gering vertreten, um aufzufallen.
D) Das belegt Paulus' Römerbrief eindeutig. Er ist auf das Jahr 58 datierbar. Paulus beginnt diesen Brief mit einer wörtlichen Anrede aller Mitglieder der römischen Gemeinde - und das sind nicht mehr als zwanzig Namen.
Man müßte also davon ausgehen, daß zwischen 58 und 64 die Christen in Rom so rapide zugenommen haben, daß sie in der Millionenstadt nicht nur ins Gewicht gefallen wären (was ziemlich unwahrscheinlich ist), sondern auch noch dermaßen negativ aufgefallen sein müßten, um eine anti-christliche Stimmung im Volk zu schüren, was in sechs Jahren kaum möglich scheint.
Es konnte in Rom also im Jahr 64, dem Jahr des großen Brandes, politisch keinen Sinn machen, ausgerechnet die wenigen Christen als Sündenböcke zu benutzen.
Aus diesen Grundgedanken ließe sich eine andere Interpretation der betreffenden Tacitus-Stelle aufstellen:
- Nero hat sehr wohl die Anhänger eines Chrestos verfolgen lassen, aber diese Leute waren NICHT identisch mit den Christen und gehörten zu einer anderen jüdischen Splittergruppe (wie es die Christen damals allerdings auch noch waren).
- Chrestos ist ein hellenistischer Allerweltsname, und ist auch für jüdische Menschen durch Grabinschriften belegt, wohingegen Christos ein Titel ist, nämlich in der Septuaginta d.h. der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, die Übersetzung des hebräischen Wortes maschiach - Messias, wörtlich "Der Gesalbte").
Wenn Tacitus in Buch XV, 44,3 von einem unter Tiberius hingerichteten Christos, von dem sich die Chrestiani herleiten, spricht, könnte Christos als griechisch-lateinische Übersetzung des hebräischen Messias verstanden werden, ein Titel, der von verschiedensten Anführern jüdischer Splittergruppen beansprucht wurde und muß nicht zwingend auf den uns geläufigen Jesus Christus hinweisen.
- Es herrschte innerhalb des Judentums eine aufgeheizte Stimmung (Judaea, Besatzung etc), und es war absolut üblich, daß, auch noch in dieser Zeit, diverse Männer, die sich Messias nannten (und diesen Begriff politisch verstanden, wie überhaupt das Judentum diesen Begriff politisch interpretierte!) auftraten und radikalisierte Splittergruppen bildeten, in Judaea wie in der Diaspora, die sich seit der babylonischen Eroberung Judaeas entwickelt hatte.
Es bestanden also konkrete politische Spannungen zwischen jüdischen Bürgern des imperium romanum und den nichtjüdischen, die sich zu den ohnehin zumindest teilweise vorhandenen antisemitischen Ressentiments addierten.
Aus der Sicht Kaiser Neros macht es politisch mehr Sinn, einer sozusagen "bewährten" Sündenbockgruppe (antisemitische Motive und Beschuldigungen waren zu dieser Zeit absolut geläufig, finden sich z.B. auch bei Tacitus!) die Schuld am Brand Roms zuzuschreiben, als eine sicher sehr kleine, größtenteils unbekannte Gruppe vorzuschieben.
- Judenvertreibungen sind für Rom belegt, z.B. im zweiten vorchristlichen Jahrhundert, man operierte mit dem Begriff der superstitio; superstitio wird meistens mit Aberglaube übersetzt, aber bezeichnet eher religiösen Fanatismus bzw. religiöse Praktiken zum Schaden anderer, wobei superstitio im römischen Recht als crimen galt).
Es gibt Hinweise, daß es unter Kaiser Claudius, das heißt, dem Vorgänger Neros, eine Judenvertreibung gab. Sueton berichtet: "Iudeaos impulsore Chresto (sic! Es muß sich nicht um denselben Chrestos bzw dieselben chrestiani handeln, die Tacitus erwähnt, aber es wäre möglich, Anm. d. Verf.) assidue tumultuantis Roma expulit. - Die Juden, die sich von Chrestos ständig zu Unruhen anstiften ließen, vertrieb er aus Rom."
(Suet. div. Claud. 25, 4, Übersetzung aus: Die Kaiserviten/ De Vita Caesarum, Berühmte Männer/ De Viris Illustribus, lat-dt, herausgegeben und übersetzt von Hans Martinet, Artemis und Winkler Verlag, Düsseldorf/Zürich 1997)
Diese Überlegungen sollten bei der Beurteilung von Neros Charakter und in der Darstellung frühchristliche Geschichte miteinbezogen werden, da sie so starke Indizien für eine Abweichung vom Mainstream der wissenschaftlichen Meinung liefern, die man nicht ignorieren kann.
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